Die Lehren des Schuldirektors George Harpole • Joseph Lloyd Carr

Mit Dienstbeginn endet die Menschlichkeit. Ein sozialkritisches Requiem.

Jede Schule braucht eine:n Schuldirektor:in. Noch besser wäre es, wenn jede Schule eine:n humorvolle:n, sozialkritische:n Direktor:in hinsichtlich reaktionärer Pädagogiktraditionen hätte – einen Direktor wie George Harpole. Mit Die Lehren des Schuldirektors George Harpole legte Joseph Lloyd Carr die schonungsloseste Innenansicht seines literarischen Wirkens vor. Sie ist sein persönliches Requiem, seine Grabrede auf seine 15-jährige Zeit als Schuldirektor von 1952 bis 1967.

Ein Briefroman vom Lehrerpult

Statt einer klassischen Ich- oder Er-Erzählung, die dem typischen Roman zugrunde liegt, wählte Carr für dieses Werk das Genre des Briefromans und stellte sich so in die Tradition von Bram Stokers Dracula (1897), Hugo von Hofmannthals Die Briefe des Zurückgekehrten (1907) oder Alice Walkers Die Farbe Lila (1982).
Ausgangspunkt der Handlung ist die Abordnung des Lehrers George Harpole in die Funktion des Schuldirektors auf Zeit an die Tampling St. Nicholas Primary School, eine kirchlich geprägte Schule in staatlicher Trägerschaft (keine Pointe!). Die Handlung umfasst die nicht-bezifferbare Zeit des Protagonisten an der Schule und setzt sich aus Tagebucheinträgen, den kursiv markierten und süffisanten Kommentaren eines auktorialen Erzählers, Schulprotokollen sowie Briefwechseln mit Schüler:innen, deren Eltern, Kolleg:innen, Gewerkschaftssekretären und den nervtötenden Lokalpolitikern sowie den Gesinnungsterroristen des Schulamtes zusammen.

Was mich zunächst ähnlich wie in Ocean Vuongs On Earth We Are Briefly Gorgeous schockierte – die Briefform des Romans – ist spätestens nach den ersten zehn Seiten Normalität und ein literarischer Hochgenuss. Nicht nur, dass die Briefwechsel erfrischend kurz ausfallen, nein, darüber hinaus sind sie derart scharfzüngig, dass mir manchmal das Lachen im Hals stecken blieb. So erlaubt sich der neue Direktor Harpole direkt einen Fauxpas, indem er seinem Kollegium mit Verweis auf einen wissenschaftlichen Artikel im Teacher mitteilt, dass sich dieses »vom Gebrauch des Rohrstocks (…) verabschieden« (S. 21) solle, da dieser einen nachhaltigen Schaden der Lehrer-/Kind-/Eltern-Beziehung nach sich ziehe. Die schmalllippige Antwort des Law-and-Order-Lehrers James Albert Pintle dazu: »Streiks, Demonstrationen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, pornografische Theateraufführungen und Techtelmechtel ohne Trauschein – all das ist dieser Auflösung der sozialen Ordnung geschuldet, die ich nicht zu unterstützen gewillt bin« (S. 22). Zack!
Von eben jenem Fegefeuer der Eitelkeiten, in das George Harpole regelmäßig mit seinen ›Reförmchen‹ stößt, lebt der Roman. Das stimmt nachdenklich und ist (für mich als Jünger der kritischen Erziehungswissenschaft) darüberhinaus sehr unterhaltend, zumal aus Mangel an Beispielen aus meinem Alltag.
Die Rezeption der Ansichten und ideologischen Grabenkämpfe Harpoles mit Krawattenträgern, Lokalpolitikern und Kolleg:innen hatte während der Lektüre einen kathartischen Effekt für mich. Wo sonst, wenn nicht in der Literatur kann die Abarbeitung an der rabenschwarzen pädagogischen Geisteslosigkeit der Gegenwart stattfinden, wenn die Gesellschaft, in der ich gewissermaßen als Insasse hause, die Zeichen des Reformwandels spätestens seit dem PISA-Schock gezielt ausblendet?

Harpole kämpft gegen Windmühlen

Ohne zu viel vorweg nehmen zu wollen: Harpole kämpft in seiner Rolle als Direktor gegen die soziale Ungleichbehandlung von Kindern zwischen den verschiedenen Stadtteilen (die Schüler:innen seiner Schule erzielen eigentlich die gleichen Ergebnisse wie die Kinder der Nachbarschule, werden aufgrund ihrer sozialen Herkunft jedoch diskriminiert), den Sozialdarwinismus von Schulbeamten, gegen die soziale Ächtung von sozioökonomisch weniger starken Familien und nimmt gleichzeitig seine mit der Dauer seiner Rektorenschaft sich der Reformpädagogik zuwendenden Kolleg:innen vor der Kritik des Schulamts und des Stadtrats in Schutz. Spätestens mit der Kritik an der Heuchelei der Labour-Abgeordneten (den englischen Sozialdemokraten) ist auch in politischer Hinsicht der Bogen in die Gegenwart geschlagen: »Dann erklärte sie [Miss Foxberrow, Lehrerin der Schule], unsere Politiker würden viel zu sehr auf ihren Verstand hören und viel zu wenig auf ihr Herz und sie wünschte, ein Labour-Urgestein wie Keir Hardie würde aus dem Grab auferstehen und einige der heutigen Pseudo-Labour-Abgeordneten dafür in ihres hinabsinken« (S. 152). Manchmal hatte ich während der Lektüre das Gefühl, dass ich dieses Buch genau zur richtigen Zeit gefunden habe. Sozen- und Schulbashing. Auch wenn ich das Wort nicht mag: Das ist tatsächlich großartig

Trotz der Wohlgefälligkeit des Buches für meine persönlichen Ansichten ist der Duktus des Buches natürlich ein sehr subjektiver und daher manchmal etwas zu eindimensional. Der Star-Wars-Logik folgend gibt es hier auf der guten Seite der Republik den heroischen Lehrer und dort auf der bösen Seite des Imperiums das Schulamt. Die Figurenzeichnung ist daher sehr plakativ. Der Schulbeamte Tusker ist ein cherry picker, der jede Amtshandlung Harpoles als Sittenfall und Dienstvergehen brandmarkt. Der Schuldirektor Harpole ist der Herold des guten Gewissens, gekleidet in den karmesinroten Mantel des guten Samariters.
Carr muss das Schulsystem bitter enttäuscht und voller Gram verlassen haben, anders kann ich mir scharfzüngige Ausbrüche wie folgenden nicht erklären: »In einer Hierarchie werden Beschäftigte so lange befördert, bis sie auf einen Posten gelangen, wo sie vollends inkompetent sind. Mehr noch: Dieses Prinzip ist eine tragende Säule des Bildungssystems« (S. 70).

Trotz der von vornherein offensichtlichen Absicht des Buchs, scharfzüngige Schul- und Sozialkritik im Gewand des Briefromans zu betreiben, ist Die Lehren des Schuldirektors George Harpole gerade wegen seiner kompromisslosen Sprache, seiner stringenten Charakterzeichnung der Lehrer:innen und der Allgegenwärtigkeit englischen Humors ein literarischer Hochgenuss. Das Genre des Briefromans war selten so unterhaltend und wenig belehrend zugleich. Bedauerlich ist die Kürze des Romans – er hätte ruhig 200 weitere Seiten von der Odyssee des Schuldirektors Harpole im Pfuhl der pädagogischen Fettnäpfchen berichten können. Für mich ist dies das erfrischendste Requiem auf das Schulsystem – bisher!

Joseph Lloyd Carr, Jahrgang 1912, verstorben 1994, war ein britischer Schriftsteller und Lehrer. Nach langjährigem Schuldienst quittierte Carr diesen und veröffentlichte insgesamt acht Bücher, die erst nach seinem Tod größere Beachtung fanden. Die Lehren des Schuldirektors George Harpole erschien erstmals 1972. Die von mir rezensierte Version erschien 2019 bei DuMont, wurde von Monika Köpfer aus dem Englischen übersetzt und umfasst 288 Seiten. Außerdem haben wir von Jospeh Lloyd Carr bereits Ein Tag im Sommer rezensiert.
Sämtliche Rechte am Cover und an den Zitaten liegen beim Verlag bzw. bei dem Autor / der Übersetzerin.


Dominik | Liebt die Bücher von Roger Willemsen und Christopher Hitchens, Zartbitterschokolade und Mate. Inhaliert in freien Minuten Wikipedia-Artikel. Brennt für (Medien-) Pädagogik und Digitalisierung.


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