Ein Tag im Sommer • Joseph Lloyd Carr

Ein Tag im Sommer ist Schulkritik im bürgerlichen Mantel des Sittenbilds einer Kleinstadt.

Was gibt es Schöneres, als sich an einem verschneiten, eiskalten Tag auf das Sofa zu setzen und sich lesend in die allumfassende Wärme und Helligkeit des Sommers zu versetzen? J. L. Carrs Ein Tag im Sommer ist ein Roman, der nicht nur Lust auf den Sommer, sondern auch auf einen radikalen Ausbruch aus dem (beruflichen) Alltag macht.

Von Pfarrern und Lehramtsanwärtern

Ähnlich wie Carrs Romane Ein Monat auf dem Land und Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten spielt dieser in einem isoliert wirkenden Ort namens Great Minden, der irgendetwas zwischen Kleinstadt und größerem Dorf sein möchte. Minden? Hier klingeln meine Alarmglocken, da Minden, eine ostwestfälische Stadt im akuten Zustand des Verfalls, sich in der Nähe meines Geburtsortes befindet. Im Roman wurde das fiktive ehemalige Örtchen Little Oatley von Sir Theodore Firbank nach dem Siebenjährigen Krieg (von 1756 bis 1763) in Great Minden umbenannt, als dieser hörte, »dass sein Sohn gefallen war« (S. 35).

Im Mittelpunkt der Erzählung steht der Bankangestellte und Kriegsveteran Peplow, der nach Great Minden reist, um sich an dem Jahrmarkt-Schausteller zu rächen, der betrunken seinen zehnjährigen Sohn überfuhr. Great Minden ist an dem Tag der Ankunft Peplows Heimat eines großen Ereignisses: der Kirchweih und dem damit verbundenen Jahrmarkt, der das Highlight der näheren Umgebung im Herzen Yorkshires ist. »Die Leute messen die Zeit an diesem Ereignis« (S. 83). Passend dazu gliedert sich das Buch rund um diesen Tag in die vier großen Kapitel Morgen, Mittag, Abend und Nacht.

Während Peplows Besuchs in dem Ort, bei dem ich mir zu keinem Zeitpunkt sicher bin, ob es sich nun um eine Kleinstadt oder ein größeres Dorf handelt, trifft er seine ehemaligen Kameraden von der Kriegsfront und lernt zahlreiche weitere seltsame Gestalten Great Mindens kennen. Zum Beispiel den untreuen Pfarrer, der durch die Mitglieder des Pfarrgemeinderats keine finanzielle Unterstützung bei der Umgestaltung des Dorffriedhofs erfährt, weil diese ihn für moralisch nicht integer halten. Weitere Charaktere sind der Lehramtsanwärter Sidney Croser, die Schuldirektorin Ms. Prosser, die Pensionsbesitzerin Mrs. Loatley und der Sohn eines Kriegsveteranen, Nick Bellenger.

Absehbare Gewaltexzesse als persönliche Katharsis

Besonders die Verarbeitung der Kriegserfahrungen für Peplow und seine Kameraden Bellenger und Ruskin ist ein Leitmotiv der Erzählung. Der Krieg wird jedoch nur fragmentarisch geschildert. Ruskin und Peplow schwelgen in ihren Gesprächen in Erinnerungen, die – einem Puzzle ähnlich – deutlich machen, dass ihr Trauma, ihr Schmerz sehr tief sitzen und selten an die Oberfläche stoßen.
Der Zweite Weltkrieg ist wie eine unsichtbare Folie, die an all den Gesprächen, Gedanken und Handlungen von Bellenger, Ruskin und Peplow haftet. Ihre Erlösung von diesem Schatten der Vergangenheit erfahren die drei Charaktere im Verlauf des Tages tatsächlich, jeder jedoch auf eine unterschiedliche Weise.

Seine Erzählung gestaltet Carr anfänglich mit unlesbaren Schachtelsatz-Konstruktionen, die Thomas Mann alle Ehre erweisen. Glücklicherweise rücken sie im weiteren Verlauf der Lektüre in den Hintergrund und weichen den bildhaften, lakonischen, zynischen und (mir als Lehrer) nachvollziehbaren Alltagsschilderungen des geheimen Protagonisten des Buches, dem Lehramtsanwärter Croser. Schilderungen wie »[er] hasst bereits den vor ihm liegenden Tag« (S. 37), »Warum bin ich hier?« (S. 78), »›Mach dein Lehrerdiplom, dann bist du auf der sicheren Seite.‹ Ah, dachte er reumütig, genau da bin ich falsch abgebogen, und sieh nur, wo ich gelandet bin« (S. 79) oder »wenn Lehrer hin und wieder ihre Unfehlbarkeitsmaske fallen ließen und sich über die Tyrannei beschwerten, der sie ausgeliefert waren« (S. 86) erinnern mich teils an meinen Corona-Schulalltag. So las ich diese Äußerungen mit einem lachenden und einem weinenden Auge, weil es mich doch überraschte, dass ein 60 Jahre altes Buch immer noch so passend die Realität des Schulsystems wiedergibt, der sich Carr sicherlich auch ausgesetzt sah. 

Der sexsüchtige Lehramtsanwärter Croser ist darüberhinaus der Schreckensherrschaft der Law-and-order-Pädagogin Ms. Prosser ausgesetzt, die nachts »reglos wie eine mittelalterliche Grabplastik« (S. 41) in ihrem Bett liegt und deren Nerven bereits morgens zum Zerreißen gespannt sind, da sie sich und die Welt hasst. Diese Rektorin versucht, alle Kinder in ihr Schema zu pressen (ähnlich dem immer noch in Deutschland existierenden Leistungsdenken, das – ähnlich wie die Binnenstruktur eines Schlachtbetriebs – zwischen schwach, durchschnittlich und stark unterscheidet). Wenn ein Kind von diesem Schema abweicht, »ist sie persönlich beleidigt« (S. 107). Später wird jedoch deutlich, dass diese Frau früher einmal mit den Wanderers, der Fußballgruppe aus Carrs Roman Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten, mitreiste und ein gern gesehener Gast des örtlichen Pubs war. Irgendwann trat jedoch der Knacks in das Leben von Ms. Prosser und sie trägt diese Wunde offen mit sich herum, indem sie Enttäuschung und Boshaftigkeit projiziert.

Kriegserfahrungen, Schulkritik und persönliche Verletzungen sind die Themen des lange unbekannten ehemaligen Lehrers J. L. Carr. Ein Tag im Sommer beginnt zunächst als linear wirkender Krimi, der sich zu einem komplexen Sittenbild ländlicher Gegenden und ordentlicher, böser Schulkritik entfaltet.
In einem finalen Federstrich brechen alle in der Erzählung auftauchenden Figuren in deliriösem Wahn aus den Hüllen ihres eigenen Versagens aus und erleben ihre eigene Katharsis aus Feuer, Flucht, Hoffnung, Ende, Neubeginn und Mord, die sie – Phönixen gleich – neu auferstehen lässt. Der nächste Sommer kann kommen.

Joseph Lloyd Carr, Jahrgang 1912, verstorben 1994, war ein britischer Schriftsteller und Lehrer. Nach langjährigem Schuldienst quittierte Carr diesen und veröffentlichte insgesamt acht Bücher, die erst nach seinem Tod größere Beachtung fanden. Ein Tag im Sommer erschien erstmals 1963. Die von mir rezensierte Version erschien 2018 bei DuMont, wurde von Monika Köpfer aus dem Englischen übersetzt und umfasst 301 Seiten. Außerdem haben wir von Jospeh Lloyd Carr bereits Die Lehren des Schuldirektors George Harpole rezensiert.
Sämtliche Rechte am Cover und an den Zitaten liegen beim Verlag bzw. bei dem Autor / der Übersetzerin.


Dominik | Liebt die Bücher von Roger Willemsen und Christopher Hitchens, Zartbitterschokolade und Mate. Inhaliert in freien Minuten Wikipedia-Artikel. Brennt für (Medien-) Pädagogik und Digitalisierung.


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