Mein Jahr im Wasser • Jessica J. Lee

Sich verlieren und Halt im Wasser finden.

Ich fühle mich vom Wasser angezogen. An Orten ohne Wasser bin ich unglücklich, ein elementarer Teil von mir fehlt. Wasser erdet mich. Die Sommer meiner Jugend verbrachte ich fast täglich in und an einem Brandenburger See. Früh hin, abends zurück. Immer hatte ich nasse Haare, manchmal war auch der Bikini am nächsten Morgen noch klamm. In Urlauben am Meer begrüßte ich es unter Wasser und verabschiedete mich von ihm am letzten Tag, immer mit dem Versprechen begleitet, bald wiederzukommen. Jetzt wohnen wir endlich in direkter Seenähe. Im Sommer kann ich den ganzen Tag lang nur daran denken, wann ich endlich wieder im See sein kann. Im Winter versuche ich, den See zu ignorieren, um das Schwimmen nicht zu vermissen. Schwimmbäder sind nur für den Winter eine Alternative, Freibäder sind ein No-Go. Ich brauche Seen – und Jessica J. Lee auch.

Schichten aus Wasser, Gefühlen und Gedanken

Jessica J. Lee ist gebürtige Kanadierin. Während der Handlung des Buchs lebt sie jedoch in Berlin und hat sich vorgenommen, ein Jahr lang an einem Tag in der Woche mindestens einen See in Berlin und Brandenburg aufzusuchen. Zu Beginn des Buches ist noch Sommer. Lee braucht ein wenig, um einen Rhythmus zu finden, eine Weile liest es sich für mich sehr unspektakulär. Sommer und schwimmen gehören für mich eben einfach zusammen, dafür brauche ich kein Buch. Doch mit den voranschreitenden 52 Wochen öffnet sich auch Lee. Ich lerne viel über die Schichten von Seen, über Fontane und leide mit ihr, wenn Lee auf sandigen Wegen in Brandenburger Kiefernwäldern mit dem Fahrrad stecken bleibt. Ich begleite ein wenig ihren Prozess der Dissertation, die sie während des Seen-Projekts schreibt. Leise klingt auch an, dass sie versucht, einiges zu verarbeiten: eine Trennung, die kaum eine ist, weil dort nie eine Beziehung war; einen Unfall und eine frisch diagnostizierte Depression; das Gefühl, in London nicht mehr heimisch zu sein, wo sie sich doch so sehr Zuhause gefühlt hatte. Doch Berlin nimmt sie im Laufe des Buchs auf, sie öffnet sich Berlin und Berlin öffnet sich ihr und zusätzlich gewinnt sie während des Schwimmens eine neue, enge Freundin.

Schwimmen im Eis

Am meisten hat mich der Winter-Abschnitt in Mein Jahr im Wasser beeindruckt. Wie Lee zuerst das Eis wissenschaftlich betrachtet und später auf der zugefrorenen Oberfläche eines Sees kniet und mit einem kleinen Werkzeugkasten-Hammer ein Loch in die Oberfläche schlägt, um schwimmen zu gehen. Wie sie später an einem eisigen Tag mit dem Rad hinfällt und sich das Bein aufschlägt, es aber erst in der warmen S-Bahn anfängt zu bluten. Lee schwimmt bei jeder Temperatur und jedem Wetter und ich bin enorm beeindruckt, weil es fast wie ein Tabubruch wirkt, im Winter schwimmen zu gehen. Es schockiert mich und die Menschen, die ihr dabei begegnen – und gleichzeitig fasziniert es mich sehr.

Bucket-List für Wasserratten

Mein Jahr im Wasser ist Reisebericht, Tagebuch, geomorphologischer Aufsatz und psychologische Tiefenanalyse in einem. Und es ist vor allem ein sehr nerdiges Buch. Wer keine Bindung zu den Seen in Berlin und dem Umland hat und nicht gern schwimmt, braucht hier gar nicht erst reinzulesen. Doch wer das Wasser liebt und dort wohnt oder mal gewohnt hat, wird in ein fabelhaftes Buch eintauchen können, das einen Einblick in ein Lebensjahr einer Frau, die Halt sucht und ihn im Wasser findet, schenkt – oder auch einfach eine fantastische Bucket-List für die nächsten Schwimmausflüge beinhaltet.

Jessica J. Lee, Jahrgang 1986, ist eine britisch-kanadisch-taiwanische Autorin und Umweltwissenschaftlerin. Sie promovierte in Landschaftsgeschichte, wurde bereits mehrfach für ihr Werk ausgezeichnet, ist Herausgeberin der Literaturzeitschrift The Willowherb Review (in der vor allem nature writing von Autor:innen of Color erscheint) und schwimmt leidenschaftlich gern auch im Winter. Einige Jahre lang lebte Lee in Berlin, mittlerweile lehrt an der University of Cambridge. Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin erschien 2017 bei Piper, wurde von Nina Frey und Hans-Christian Oeser übersetzt und umfasst 336 Seiten.
Sämtliche Rechte am Cover und an den Zitaten liegen beim Verlag bzw. bei der Autorin und Übersetzer:innen.


Elisa | Liebt die Bücher von Judith Hermann, Iris Wolff und Zsuzsa Bánk, Blumen und frischen Pfefferminztee. Tobt sich in freien Minuten auf wilderdinge.de kreativ aus. Macht was mit Medien.

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