Während wir feiern • Ulrike Ulrich

Fließende Erzählstränge voller Kontraste und unsympathischer Figuren.

Zehn Seiten vor dem Ende von Während wir feiern formuliert eine der Figuren, Martina, die Quintessenz des Romans: »Wir feiern doch immer neben dem Unglück der anderen« (S. 262).

Ein germanistisches Fest

Während wir feiern ist rein von der Machart her die siebte Wolke für Germanist:innen. Es gibt keine Kapitel, sondern hunderte Perspektivwechsel. Die gesamte Romanhandlung umfasst einen einzigen Tag. Und laut Internet hat Ulrike Ulrich die Erzählstruktur von Virginia Woolfs Mrs. Dalloway aufgegriffen (kenne ich nicht, kann ich nicht beurteilen). Schon allein die formale Ebene lässt also einen großen Interpretationsspielraum zu – der auf der inhaltlichen Ebene nicht kleiner wird.

Ulrike Ulrich stellt in dem Roman zwei große Erzählstränge gegenüber. Auf der einen Seite plant die Protagonistin und (noch) deutsche Sängerin Alexa ihre Feier zum Schweizer Nationalfeiertag – den sie auch nur feiert, weil ihre Einbürgerung noch nicht ganz durch ist. Auf der anderen Seite steht der schwule Tunesier Kamal kurz vor der Ausschaffung (Abschiebung auf Schweizerdeutsch) aus der Schweiz. Beide Erzählstränge werden durch die Figur Zoltan verbunden, die wiederum in beiden Erzählungen etwas aus dem Rahmen fällt und dadurch für mich die mehr oder weniger einzig interessante Figur in dem Roman ist. Doch von vorn.

Durch und durch unsympathische Figuren

Am Anfang begleite ich beim Lesen vor allem Alexa bei ihrer unorganisierten Partyplanung. Sie macht sich bei mir von der ersten Seite an unbeliebt. Sie ist sehr laut in allem, was sie tut. Sie liebt Partys, »das Flüchtige, Flirrende, Außergewöhnliche, die Mischung aus Intensität und Oberflächlichkeit« (S. 6). All das hasst ihr Freund Adrian. Er ist Anästhesist und bleibt den gesamten Roman über so facettenreich, interessant und bunt wie eine Teflon-Pfanne. Ein großes Problem zwischen beiden bleibt die meisten Seiten über, dass sie seit sage und schreibe zwölf Tagen nicht mehr miteinander geschlafen haben.
Bald darauf tauchen mehrere von Alexas Bekannten auf, die alle gefühlt entweder Schauspieler:innen und Sänger:innen oder Ärzt:innen sind (Zoltan ausgenommen, der Lehrer für Deutsch als Zweitsprache ist). Durchweg alle (bis auf Zoltan) sind mir unsympathisch, die Rapperin Evelyne vielleicht ausgenommen. Der beinahe Schlimmste unter ihnen ist und bleibt aber Brad, mit dem Alexa mal etwas laufen hatte und der am liebsten englische, halb-gare philosophische Sätze in seine Gedanken und Gespräche einbaut: »She’s always moving. Moving around. Moving things. Moving people« (S. 44). 
Brad wird nur noch von Sylvia übertroffen. Sylvia taucht zwar zum Glück nur kurz im Roman auf, schafft es aber, auf den wenigen Seiten noch abstoßender zu sein als Skyler in Breaking Bad. Sylvia hat Kamal im Urlaub in Tunesien als Touristenguide kennengelernt und halbherzig zu sich nach Zürich eingeladen. Als Kamal durch die Straßen irrt, ist sie die einzige, an die er sich noch spontan wenden kann. Bei ihr angekommen, will sie ihn erst gar nicht reinlassen. Dann versteht Sylvia sein Problem nicht so ganz, warum er nicht zurück nach Tunesien gehen kann. Später denkt sie, dass er »in der Beduinenkluft mit dem Turban viel älter, männlicher, größer« (S. 90) wirkte, der ›schöne Mann‹. Als Kamal schließlich fragt, ob er erstmal bei ihr bleiben kann, schiebt sie so lange Ausreden vor, bis sie sich fragt, warum sie ihn überhaupt in die Wohnung gelassen hat: »Sie kennt ihn kaum. Drei Tage vor fünf Jahren. Vielleicht ist er nicht schwul. Und getrunken hat er auch« (S. 92). Der Gipfel der Empörung ist bei mir erreicht, als er sein kaputtes Tastentelefon zückt und sie denkt, »die hätten jetzt doch alle Smartphones« (S. 93).

Handlungsexplosionen: Fehlanzeige

Es dauert nicht lange und mich nerven nicht nur die Figuren, sondern auch das Schweizerdeutsch (Fußnoten wären super gewesen; mir fehlt definitiv die Motivation, um all die Begriffe, die auftauchen – das Guggisberglied, Rütli, SVP – oder die vielen Namen zu googeln, um die vielen Gesprächsthemen zu verstehen) die Idee, den gesamten Roman an einer Feier aufzuziehen, was zu einem zwangsläufigen Dahinplätschern führt. Durch die häufigen, zugestanden gut gemachten und auflockernden Perspektivenwechsel bleibe ich zwar am Ball und lese immer weiter in der Hoffnung auf erlebnisreiche Wendungen und Handlungsexplosionen, aber sonderlich spannend ist und bleibt ehrlich gesagt nur der Erzählstrang über Kamal, der eine willkommene Abwechslung zu den Perspektiven der Snobs darstellt. Kamal zieht vor der ständigen Angst vor der Polizei durch die Straßen und weiß nicht, wo er hingehen soll. Zu Zoltan kann er nicht, weil Zoltan das nicht möchte. Der gleichzeitig glücklich verheiratete Familienvater ist nämlich in ihn verliebt und möchte sich das emotional nicht antun – was er für den Rest des Romans bereut, als Kamal in den Straßen Zürichs verloren geht. Während seines Trips begegnet er mehreren Figuren, die anderweitig mit dem Romangeschehen zusammenhängen – Begegnungen, die mich als Leserin schmerzen, weil sich die Figuren natürlich (noch) nicht kennen und doch aneinander vorbeilaufen und -leben, während Zoltan verzweifelt nach Kamal sucht und Alexa kaum bei der Partyvorbereitung unterstützen kann. Die sich auch Sorgen um Kamal macht, während sie mit hohen Schuhen auf einem wackligen Stuhl die schwere Bowle-Schüssel vom Schrank holen möchte.

Zynische Rache

Die Gegensätze der beiden Erzählstränge sind so heftig und nahezu zynisch, dass ich mich schon nach einem Viertel des Romans auf meine Deutung des Romans festlege: Ulrike Ulrich scheint sich an der Schweizer Oberschicht abarbeiten zu wollen. Erstens kann ich mir kaum vorstellen, dass die Mehrzahl der Schweizer ›Elite‹ so oberflächlich und unsympathisch ist. Zweitens ist der Kontrast zwischen der Feier und dem Schicksal, dem ›Überleben‹ von Kamal, das für Alexa und ihre Gäste nur eine Nebenrolle spielt, unglaublich pathetisch. Würde sie sich nicht abarbeiten wollen, müsste sie die Figur von Kamal nicht dermaßen ausnutzen. Er ist wie Ulrike Ulrichs höchstpersönlicher literarischer Strohmann: Sie missbraucht in Während wir feiern das Schicksal Geflüchteter bzw. politisch Verfolgter als Nebelkerze für ihre billige, eindimensionale Rache an der Oberschicht.
Aber eine andere Deutung wäre sicherlich auch möglich.

Ulrike Ulrich, Jahrgang 1968, ist Schriftstellerin und lebt seit 2004 in der Schweiz. Während wir feiern erschien 2020 beim Berlin Verlag und umfasst 272 Seiten.
Sämtliche Rechte am Cover und an den Zitaten liegen beim Verlag bzw. bei der Autorin.


Elisa | Liebt die Bücher von Judith Hermann, Iris Wolff und Zsuzsa Bánk, Blumen und frischen Pfefferminztee. Tobt sich in freien Minuten auf wilderdinge.de kreativ aus. Macht was mit Medien.


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