Erkenntnis und Schönheit • Ian McEwan

Bewegende Beobachtungen über das Zusammenspiel von Wissenschaft, Literatur und Religion.

Diese Schriftensammlung ist das erste Werk von Ian McEwan, das ich gelesen habe. Alle Bücher Ian McEwans vor Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion sind mir unbekannt, aber mein Autistenherz blüht allein schon beim Titel auf: Wissenschaft, Literatur und Religion. Meine persönliche heilige Themendreifaltigkeit.

McEwan verbindet lose verschiedene Beiträge

McEwan pflegt in dem Buch einen eleganten, langsamen Sprachstil, der von der allgemeinen Beobachtung ins seitenlange, detailverliebte Analysieren verfällt, ohne jedoch zu langweilen. Zwischen den Zeilen vibriert ein Furor, eine Leidenschaft für das, worüber er berichtet.
Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion besteht aus vier abgedruckten Reden und einem im Guardian erschienen Artikel (Eine parallele Situation). Die Reden und der Artikel widmen sich den Themen Literatur, Wissenschaft, Religion, Urheberschaft, Kanonbildung, Bewusstsein und Apokalpysemythen. Das klingt zunächst arg eklektisch, McEwan zeichnet aber klare Traditions- und Beziehungslinien zwischen den verschiedenen Themen, die letztendlich an einem Punkt zusammenfließen: an der Vorstellung, ein Ich oder Individuum zu sein, das vorgibt, ein Bewusstsein zu besitzen.

McEwan lädt mich zu einer historischen Spurensuche ein: von der ersten Idee Charles Darwins bis zum finalen Werk Über die Entstehung der Arten. Anhand der Beispiele möchte er vor allem auf das Problem der Wertschätzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen aufmerksam machen: Werden wissenschaftliche Beiträge von Autor:innen als Theorie gelesen, überwältigen sie ihre Leser:innen durch ihre Sprache oder die Vielfalt an Beispielen. Stattdessen solle man wissenschaftliche Beiträge als Literatur ansehen. »In der Kontemplation unserer Kunst und Wissenschaft« (S. 74) könne der Mensch eine Art Ersatz für religiöse Ehrfurcht finden.

Versuch eines Wissenschaftsliteraturkanons

McEwans versucht außerdem, einen Wissenschaftsliteraturkanon zu skizzieren, der Namen wie Dawkins, Crick, Herschel, Darwin, Wilkins, Huxley, Galileo, Leeuwenhoek, Newton, Hume, Boyle, Halley, Lucrez und viele mehr enthält. Während der Schilderung der Entstehungsgeschichte von Darwins opus magnum führt McEwan nicht nur die Widerlegung christlicher Ansichten als Verdienst des Evolutionsbiologen an, sondern hebt auch den »deutlichen Widerspruch zu rassistischen Ansichten von [anderen] Wissenschaftlern« (S. 22), der darin zum Ausdruck kam, hervor. McEwans Reden greifen dabei ineinander: Sie behandeln ähnliche Themen oder greifen das Thema des vorigen Kapitels bzw. der Rede wieder auf.

Das entscheidende, vielleicht wichtigste Kapitel dieser Sammlung ist die abgedruckte Rede Das Ich (The Self): Hier laufen alle Verbindungsfäden der verschiedenen Themen zusammen, schließlich bildet der Mensch den Anfangspunkt allen Denkens und jeder Form des Nachdenkens über das Ich – die Bedingung von Wissenschaft und Literatur.
Ergänzend zu dem kürzlich von mir gelesenen Buch Conscience. The Origins of Moral Intuition von Patricia Churchland, das auf einer rein theoretisch-philosophischen Ebene bleibt, sind die Einsichten McEwans konkreter: Das Ich zu beschreiben gelänge nur »kompliziert und nie vollständig« (S. 94) und eine Ich-Selbstüberhöhung gelte gerade bei Autor:innen als Berufskrankheit.

Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion mag zwar manchmal in große, detailverliebte Exkurse abweichen, eröffnet jedoch eine leidenschaftliche Perspektive auf McEwans Weltsicht: Eine Welt, in der sich Literatur und Wissenschaft als Ausdruck des Ichs freundschaftlich die Hand reichen. Ich hätte mir lediglich mehr Systematik erwünscht. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Inhaltsschwerpunkte der Reden aufzugliedern und die zusammengehörenden Gedanken der verschiedenen Reden bzw. Artikel zu einem zusammenhängenden, argumentativen Strang zu knüpfen. Hier musste ich als Leser sehr viel eigene Gedankenarbeit leisten.
Entgegen Hitchens oder Dawkins hat McEwan abschließend eine versöhnliche Botschaft oder Bitte an die beiden ›Lager‹ der Theist:innen und Atheist:innen: »Wie auch immer, in diesem Fall spielt es kaum eine Rolle, wer unrecht hat – niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun« (S. 179). Dem kann man nicht viel hinzufügen. 

Ian McEwan, Jahrgang 1948, ist ein britischer Schriftsteller und Träger zahlreicher nationaler sowie internationaler Auszeichnungen. Die Hälfte seiner Werke wurde verfilmt, sein bekanntestes Werk ist der 2001 erschienene Roman AbbittE. Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion erschien 2020 im Diogenes Verlag, wurde von Bernhard Robben und Hainer Kober aus dem Englischen übersetzt und umfasst 179 Seiten.
Sämtliche Rechte am Cover und an den Zitaten liegen beim Verlag bzw. bei dem Autor / den Übersetzern.


Dominik | Liebt die Bücher von Roger Willemsen und Christopher Hitchens, Zartbitterschokolade und Mate. Inhaliert in freien Minuten Wikipedia-Artikel. Brennt für (Medien-) Pädagogik und Digitalisierung.


Hinterlasse einen Kommentar

Erstelle eine Website oder ein Blog auf WordPress.com

Entdecke mehr von Wild Lines

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen

Erstelle eine Website wie diese mit WordPress.com
Jetzt starten