Kippbilder • Anna Hetzer

Anspruchsvolle Lyrik mit Grenzen, Dualitäten, Migrationsgeschichte und Perspektivwechseln.

Lyrik kann sehr anspruchsvoll sein und selten bin ich mir sicher, ob ich das gut oder schlecht finde, zumal ich mich erst seit kurzem intensiver mit Lyrik beschäftige. Anna Hetzers Gedichtband Kippbilder ist in dieser Hinsicht ein erster intensiverer Annäherungsversuch.

Komplexe Einblicke über Grenzen hinweg

Die Gedichte in Kippbilder sind in sechs Abschnitte unterteilt: ANEKDOTEN, DEUTSCHE EXPORTWAREN, ZUNGENBRECHER, KIPPBILDER, BRÜCKEN und POSTKARTEN. Die Gedichte in allen Abschnitten ähneln sich hinsichtlich der Typografie (alles ist kleingeschrieben) und ihrer Komplexität: Kippbilder ist keine Lektüre für zwischendurch. Nimmt man sich aber ausreichend Zeit, gelingen tiefere Einblicke in den jeweiligen Deutungshorizont des jeweiligen Gedichts.

In ANEKDOTEN hält Anna Hetzer vor allem Augenblicke und kleine lyrische Geschichten fest. Bei einigen Gedichten stehen Ästhetik und Emotionen im Vordergrund, die meisten sind aber eher gesellschaftskritisch und politisch aufgeladen oder erinnern an den Zweiten Weltkrieg: »aus langeweile erzählt eine frau / dass sie zwei worte kannte als sie / nach deutschland kam hände und hoch« (S. 20, EIN GESPRÄCH).

Beinahe alle Gedichte in Kippbilder spielen mit einer deutsch-polnischen Dualität. In ZUNGENBRECHER thematisiert Anna Hetzer vor allem die sprachliche Ebene dieser Dualität: Sie setzt sich mit dem Ankommen in einer neuen Sprache auseinander und bedient sich dafür kunstvoll verschiedener klassischer Zungenbrecher. Dabei gefallen mir gerade die linguistischen Metaphern außerordentlich: »während eine [zunge] am gaumen klebt / liegt eine andere mit burnout / in sekt-pralinen« (S. 35, WOVON DIE REDE IST).

Sich brechende Bilder

Noch besser gefallen mir lediglich die Gedichte im titelgebenden Abschnitt KIPPBILDER. Alle Gedichte in diesem Abschnitt besitzen ein brechendes Moment, einen Perspektivwechsel, zum Beispiel, wenn aus einem malerischen Wald plötzlich eine Todesfalle für ein Pferd und dessen Reiter wird: »das moos und die büsche / die würmer im holz und den schimmel / unter den blattadern, das tote pferd und / seinen gestürzten reiter« (S. 50, BEI LÜBBEN).

Im Abschnitt BRÜCKEN betrachtet Anna Hetzer die Gegenwart und Vergangenheit von verschiedenen, größtenteils im Raum Berlin gelegenen Brücken. Oft nimmt sie dabei einen konkreten Bezug auf die Historie der jeweiligen Brücken, beispielsweise erinnert sie an die Spionage-Treffen auf der Glienicker Brücke während des Kalten Kriegs. Auch hier spielt sie wieder mit Dualitäten: Brücken zerschneiden und verbinden zugleich.

Im letzten Teil, POSTKARTEN, bin ich mir unsicher, ob sie mithilfe konkreter Vorlagen arbeitete oder durch ihre Worte postkartengleiche Abbildungen schaffen wollte. Sie schildert jedenfalls sehr detailliert (mögliche) Postkartenmotive oder interpretiert diese in dem möglichen lyrischen Rahmen: »pflegerinnen beim betriebs- / ausflug in einem zelt aus schatten / ist ein nickerchen beim picknick / das vermischen von grundfarben« (S. 87, PICKNICK). In manchen Gedichten spinnt Anna Hetzer die Geschichte hinter dem Postkartenmotiv auch weiter.

Moderne, wichtige Perspektiven

Mit Kippbilder hat Anna Hetzer einen anspruchsvollen Gedichtsband vorgelegt. Ihre Lyrik geht über Landesgrenzen hinweg, konfrontiert mich dabei aber mit einigen Verständnishürden. Es braucht Zeit und das Glossar auf den letzten Buchseiten, um sich dem Band nähern und ›die Bilder kippen‹ zu können. Dann aber eröffnet sich ein höchst interessanter Perspektivwechsel mit Blick auf das Leben als Person mit einer deutsch-polnischen Migrationsgeschichte.

Anna Hetzer, Jahrgang 1986, ist eine deutsche Autorin. Sie studierte Medizin, Philosophie und Literatur und ist Mitglied des Berliner Lyrikkollektivs G13. Kippbilder erschien 2019 im Verlagshaus Berlin und umfasst 120 Seiten.
Sämtliche Rechte am Cover und an den Zitaten liegen beim Verlag bzw. bei der Autorin.


Elisa | Liebt die Bücher von Judith Hermann, Iris Wolff und Zsuzsa Bánk, Blumen und frischen Pfefferminztee. Tobt sich in freien Minuten auf wilderdinge.de kreativ aus. Macht was mit Medien.


5 Antworten zu „Kippbilder • Anna Hetzer”.

  1. es freut mich sehr (und erstaunt mich zugleich auch ein wenig), hier die „kippbilder“ rezensiert zu finden. am vorvergangenen donnerstag las anna hetzer bei „meine drei lyrischen ichs“ in münchen daraus (u.a.), ihre texte haben mich sehr angesprochen …
    lieben gruß,
    pega

    1. Live ist Lyrik sicher nochmal ein ganz anderes Erlebnis, aber auch gedruckt mochte ich die „Kippbilder“ sehr! Warum erstaunt es dich? 😀

      1. vielleicht hätte ich statt „es erstaunt mich“ besser sagen sollen: „ich bin angenehm/freudig überrascht“, ja, weil das, was in „jetzt“ lebendigen künstlerischen räumen abseits vom mainstream und (meist noch) ohne den segen der feuilletons entsteht, in den blogs halt eher weniger wahrgenommen wird. 😉

        1. Ah, das verstehe ich gut ☺️ wir beide sind zum Glück eh keine allzu großen Mainstream-Lesenden und haben anderweitige Interessen und Prinzipien, Dominik noch weniger als ich – er hält sich von solchen Diskursen fern. Ich lese, was interessant und klug klingt – egal, ob es gerade „in“ ist oder nicht.

          1. prima, das finde ich gut!

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